Heute habe ich noch eine Geschichte für euch - ich habe sie schon oft vorgelesen:
Wie die Nadelbäume entstanden sind
Es war einmal ein kleiner Waldgeist, Jullni von Namen, ein rechter Schelm. Er hatte Haar, das so fest war wie die Zweige eines Vogelnestes, und so strubbelig wie ein Weizenfeld, durch das der Hagel gefahren ist. Die Tiere des Waldes liebten ihn, denn er war gütigen Herzens und reinen Verstandes. Dass er mitunter seine Streiche mit ihnen trieb, verziehen sie ihm, war es doch Schabernack, bei dem niemand zu Schaden kam. Wütend wurde er nur, wenn Menschen seinen Wald betraten und ihm wehtaten: Zweige abbrachen oder den weichen, duftenden Waldboden mit ihrem Unrat verzierten. Dann hüpfte er mit feuerrotem Kopf zwischen die dichten Äste und bewarf die Menschen mit Kieseln und Zapfen, Eicheln und Kastanien. Dabei jaulte er wie der Freund Wolf, schauerlich und klagend, sodass die Menschen Angst bekamen und flohen.
Täglich streifte er durch seinen Wald, fröhlich springend, pfiff in der Stimme des Windes und sang mit den Klängen der Vögel, ritt auf dem Rücken des Fuchses und teilte mit dem Eichhörnchen das Mahl. Er planschte in dem kleinen angrenzenden See und ließ sich von sanfter Brise über die Wasseroberfläche treiben. Oder er kletterte auf einen hohen Felsen, schloss die wachen Knopfaugen und breitete die Arme aus, bis der Adler ihn vorsichtig, aber festen Griffes ein Stück mitnahm.
Jullni liebte alle Bäume seines Waldes. Er presste oft seine Wange am die Rinde und schloss seine Arme um den Stamm, fühlte die rauhe Haut der mächtigen und alten Gefährten. Er liebte die weisen Eichen, deren starker Wuchs ihn beeindruckte. Er liebte die Buchen, in deren Krone er Fangen spielte mit den flinken Eichhörnchen, die Kastanien, mit deren kugelrunden Früchten er murmelte. Selbst die schlanken Birken, die oft schnell eingeschnappt waren, wenn er einen seiner Scherze trieb, hatte er in sein Herz geschlossen, war es doch gerade die Vielfalt der verschiedenen Bäume, die seinem Wald den einzigartigen Charakter und das unverwechselbare Gesicht gaben.
Doch einen Baum liebte der kleine Waldgeist besonders. Auf ihm verbrachte er mitunter ganze Tag und Nächte, streckte sich auf den Ästen lang aus oder kletterte bis zum höchsten Wipfel der Krone. Der Baum war alt und weise, hatte viel kommen und gehen sehen, und Jullni lauschte gern seinen Geschichten, mit geschlossenen Augen und auf einem Grashalm kauend.
An einem heißen, stillen Spätsommertag- Jullni hatte gerade ein paar Eckern geknabbert- baumelte er kopfunter am starken Arm seines Baumes und schaukelte ausgelassen. Skalla - so hatte Jullni seinen Baum mit deren Zustimmung genannt- ächzte.
„He, kleiner Jullni Wirbelwind, meine müden Äste werden langsam schwer. Sei nachsichtig mit einer alten Dame wie mir.“
„Ach Mutter Skalla, das Leben ist so schön! Schau, wie die Sonne lacht vom hellen Himmel. Sie wird dir gut tun und dich wärmen.“
Dabei strich Jullni sanft über Skallas Rinde und lächelte.
„Bald schon wird die Sonne schlafen gehen für lange Zeit und Frostir wird Einzug halten. Es wird wieder die Zeit der Kälte, denn es ist das uralte Gesetz von Vergehen und Entstehen. Schau, wie emsig die Eichlinge jetzt schon sammeln. Es wird ein harter Winter in diesem Jahr.“
Mittlerweile hatte sich Jullni erhoben und stand auf dem starken Ast, an dem er soeben noch geschaukelt hatte. „Ach, gute Skalla, ich bleibe in diesem Winter bei dir, wir werden uns Geschichten erzählen und es uns gut gehen lassen...“
„Kleiner unbeschwerter Jullni“, lächelte Skalla, „du wirst den Winter in der warmen Höhle mit Grauling und seiner Familie verbringen und dein vorwitziges Näschen im Warmen halten, während ich schlafe. Obwohl es mich der Gedanke reizt, zu sehen, was Frostir treibt...“
Letzten Satz raunte Skalla mehr, als sie ihn sprach, doch Jullnis wache Ohren verstanden jedes Wort. „Also abgemacht, wir werden den Winter sehen!“
Der alte Baum lachte, und seine schon blassgrün gewordenen Blätter erzitterten wie ein Kind, das bei bitterer Medizin erschaudert. „Kleiner Waldgeist, lieber leichtmütiger Jullni, der du so unbeschwert bist! Du weißt, dass ich selbst ruhen werde in den kommenden Tagen, meine Blätter abstreife und mich tief in die Erde zu meinen Wurzeln zurückziehe. Ich werde wie tot sein, um nach langem Schlafe bei Freyas Erwachen zu leben und zu blühen. Meine Haut wird hart und kalt sein, ehe die Sonne die Kraft zurückerhält, das Leben voranzutreiben. Lausche nur, ich höre schon jetzt der Espe Jammern und Wehklagen.“
„Ich lasse dich nicht allein und wir werden dem Eisbringer die lange Nase zeigen!“ Um sein Vorhaben zu unterstreichen, streckte Jullni seine Zunge gegen den nicht vorhandenen und entfernten Boten von Schnee und Kälte heraus.
„Reize Frostir nicht, Wildfang! Nein, kleiner Gefährte, der mich täglich mit seiner Neugier und Unbefangenheit erfreut, es geht nicht! Du würdest erfrieren, ist deine Haut doch weich und zart und dünn.“
Traurig senkte Jullni den Kopf. Dann, nach einer Weile des Schweigens murmelte er: „Ich finde einen Weg.“
Die Tage würden kürzer und spürbar kühler. Der Herbstwind fegte die Blätter unbarmherzig von den Ästen der Bäume, die bald nackt und zitternd dastanden und im Gegensatz zu der sonst so blühenden, lebendigen Pracht trist und traurig schienen. Jullni zermarterte sich den kleinen Kopf, was er tun könne. Skalla versuchte, ihre Blätter so lange es ging, zu halten, doch auch ihre Kraft schwand langsam aber stetig dahin. Manchmal saß Jullni zitternd bis zum späten Abend in Skallas Armen, bis er sich in seine weiche Erdhöhle zurückzog.
„Was kann ich tun?“ fragte er die Maus, mit der er an einem erstaunlich milden Spätherbsttag Eicheln sammelte. Der winzige Grauling, der sich nicht wie andere zum Winterschlafe begab, unterbrach sein Knabbern. „Nun, ein Fell müsste Skulla wachsen, so wie meine Verwandten und ich eines haben. Gut, wir gehen nicht vor die Tür, wenn es nicht sein muss, aber denk an Eichling, der hüpft bei jedem Wetter umher und sucht seine Futterkammern, von denen er vielleicht die Hälfte findet.“
Grauling sagte dies nicht ohne einen Anflug von Spott, denn die Maus belächelte ihren schwanzbuschigen Verwandten, der sich damit abmühte, im Herbst sein Futter zu vergraben, um es im Winter wieder auszubuddeln.
Jullni besah sich das graubraune Fell der Maus, strich sanft darüber, mit und gegen den Wuchs. Grauling schüttelte sich kichernd, denn der Waldgeist hatte die kitzelige Rückenpartie berührt. Plötzlich sprang er auf und rief: „Ich hab’s!“
Schneller, als die flinke Maus selbst sein konnte, sprang Jullni auf und flitzte zu Skalla. Der Baum wirkte klein und gebrechlich, denn der immer kälter werdende Wind setzte dem alten Baum sichtlich zu. Skalla hatte dem kleinen Waldgeist zuliebe ihre Blätter gehalten, als letzte im ganzen Wald. Doch es war an der Zeit sich zu verabschieden, bis Freya die Sonne wecken würde und alles neu erblühte.
„Halte ein, gute Skalla!“ rief Jullni aufgeregt, und seine Wangen röteten sich vor innerer Hitze. Sein Atem ging schnell, und kalte Atemwolken umstoben sein wirres Haar. „Ich weiß, wie du den Winter sehen kannst! Halte nur still!“
Die kleinen flinken Hände des Waldgeistes ergriffen ein Blatt. Die Farbe war noch immer nicht daraus gewichen, so sehr hatte Skalla gegen das Vergehen angekämpft. Jullnis Finger waren erstaunlich kräftig, und er drehte das feuchte Blatt zu einer festen, harten Röhre.
„Es geht, Skalla, es geht!“ rief er aufgebracht und schnappte nach dem nächsten Blatt. Kurz pustete Jullni seinen warmen Atem zwischen die gekrümmten Hände, damit sie nicht steif vor Kälte würden, denn er hatte sich viel vorgenommen an diesem Morgen. Er sang und pfiff, hüpfte und sprang, rollte und drehte bis zum späten Nachmittag und wurde nicht müde. Skalla richtete sich auf, hob und senkte ihre Äste und Zweige, damit ihr kleiner Gefährte sie überall erreichen konnte. Bald schon stimmte sie fröhlich in sein Lied mit ein, und die anderen Bäume reckten neugierig ihre Zweige und besahen das seltsame Schauspiel.
Der Wind, der von Osten und Norden wehte, legte sich mächtig ins Zeug und schüttelte an Skalla, um Jullnis Vorhaben zunichte zu machen. Wo gab es das denn, dass sich jemand gegen das alte Gesetz erhob? Er, der Wind, hatte einen Auftrag, und seit Anbeginn der Zeiten hatte er seine Arbeit vollstens erfüllt. Und nun kam dieser kleine Schelm daher und legte sich mit ihm an! An den zusammengerollten Blättern bildete sich bereits Reif, so kalt und hart blies der Wind.
Doch alles Pusten, Wehen und Schütteln nutzte nichts. Jullni drehte unbeirrt, und am frühen Abend war er fertig und besah sich die neue Pracht. Der Wind zog beleidigt und wütend ab, doch schwor er sich, im nächsten Jahr wiederzukommen. Jullni und Skulla lachten ihm hinterher. Der alte Baum hatte sich nun zu seiner vollen Größe aufgerichtet, und seine Blätter leuchteten in sattem Grün. Das Eichhörnchen, welches neugierig am Stamm hockte, folgte Jullnis einladender Geste und kam flinken Schrittes herauf gesprungen. Hinter dem dichten Blattwerk war es warm und windgeschützt. Der Eichling versorgte sich und Jullni den ganzen langen Winter über mit den vergrabenen Früchten des Waldes, und an manchen Tagen halt der Waldgeist, die Eckern und Eicheln und Kastanien aus dem harten Waldboden zu graben.
Als Freya den Frühling einläutete und die Sonne den Schnee fortschmolz, wunderte sich die Frühlingsgöttin zunächst sehr über das merkwürdige Bild, welches das Trio abgab. Doch die Hüterin des Lebens erfreute sich schließlich an dieser Hartnäckigkeit und Verbundenheit, so dass sie es guthieß und Skalla zum Lohn als Wächterin des Winters ernannte.
So entstanden die Nadelbäume und der Nordostwind weht und zerrt verärgert noch heute an allem, was nicht winterfest ist.
Herzliche Grüße
Anika
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